Klinisch Einteilung der Depressionen
Klinisch unterscheidet man verschiedene Formen von Depressionen, z. B.:
- die gehemmte Depression (v.a. Zeichen von Gehemmtheit, Blockiertheit, Verlangsamung, Antriebsverlust)
- die agitierte Depression (v.a. hektische Betriebsamkeit, ängstliche Unruhe)
- die larvierte Depression (funktionelle Organbeschwerden stehen im Vordergrund und lenken den Verdacht zuerst auf eine körperliche Erkrankung. Häufig erfolgen zunächst eine Reihe von vergeblichen körperlichen Abklärungen, bis jemand auf die Diagnose „Depression“ kommt)
- die psychotische Depression (hierbei finden sich psychotische Symptome wie wahnhafte Verarbeitung (Schuldwahn, Verarmungswahn, Versündigungswahn) oder Halluzinationen (z.B. Stimmenhören)
- die atypische Depression (vegetative Symptome wie Gewichtszunahme, Fresssucht, oder auch eine vermehrte Kränkbarkeit stehen im Vordergrund)
Traditionelle Einteilung der Depressionen
Traditionell teilte man die Depressionen diagnostisch in drei Gruppen ein, nämlich in
- körperlich begründbare (somatogene, „symptomatische“) Depressionen
- endogene Depression
- neurotische bzw. psychoreaktive Depressionen
Einteilung der Depressionen in den modernen Klassifikationssystemen
Heute werden Depressionen bzw. die verschiedenen „depressive Zustände“ mit Hilfe „operationalisierter Klassifikationssysteme“ (ICD-10 und DSM-IV) möglichst rein beschreibend und nach vorher festgelegten, manualisierten Kriterien und diagnostischen Leitlinien diagnostiziert und katalogisiert. Im Vordergrund der Betrachtung steht dabei nicht mehr die vermutete Ursache der Störung, sondern die Symptomatik, der Schweregrad und der zeitliche Verlauf.
Diagnostik nach ICD-10 (F32; F33)
Die ICD-10 unterscheidet grob zwischen
- einzelner depressiver Episode (unterschiedlicher Schwere und Verlaufsart/-dauer) und
- rezidivierender depressiver Störung (ab dem ersten Wiederholungsfall (Rezidiv), ebenfalls mit unterschiedlicher schwere und Verlaufsart/-dauer)
Das gemeinsame Kennzeichen jeder depressiven Erkrankung ist das sogenannte „depressive Syndrom“, d. h. eine variable, aber dennoch charakteristische Ansammlung von Einzelsymptomen. Ein solches „depressives Syndrom“ ist gemäss ICD-10 (S.141ff) gekennzeichnet durch:
-
Typische Symptome
- depressive Stimmung
- Verlust von Interesse und Freude
- erhöhte Ermüdbarkeit
-
Zusätzliche häufige Symptome
- Defizite in Konzentration und Aufmerksamkeit
- Reduktion von Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
- Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit
- negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
- Suizidgedanken, erfolgte Selbstverletzung oder Suizidhandlungen
- Schlafstörungen
- verminderter Appetit
-
Optional ein „somatisches Syndrom“
Weder die typischen noch die zusätzlichen Symptome müssen für die Diagnosestellung einer depressiven Episode nach ICD-10 vollständig erfüllt sein. Man geht aber davon aus, dass mit steigender Zahl erfüllter Kriterien die Diagnose sicherer wird und der Schweregrad der Erkrankung höher ist. Ein somatisches Syndrom ist oft zusätzlich vorhanden und mit steigendem Schweregrad der Depression immer wahrscheinlicher. Die eigentliche Diagnosestellung erfolgt aber über die typischen und zusätzlichen Symptome.
In das Spektrum der leichten bis mittelschweren depressiven Episode fallen nach ICD-10 folgende ähnliche Begrifflichkeiten (sofern sie sich auf einzelne Episoden beziehen):
- depressive Reaktion
- „major depression, ohne psychotische Symptome“
- „majoren Depression, ohne psychotische Symptome„
- psychogene Depression
- reaktive Depression
In das Spektrum der schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome fallen nach ICD-10 folgende ähnliche Begrifflichkeiten (sofern sie sich auf einzelne Episoden beziehen):
- agitierte Depression
- Melancholie
- vitale Depression ohne psychotische Symptome
In das Spektrum der schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptome fallen nach ICD-10 folgende ähnliche Begrifflichkeiten (sofern sie sich auf einzelne Episoden beziehen):
- major depression, mit psychotischen Symptomen
- „majoren Depression, mit psychotischen Symptomen „
- psychotische Depression
- psychogene depressive Psychose
- reaktive depressive Psychose
Es gelten folgende diagnostische Algorithmen für die einzelne depressive Episode :
-
Leichte depressive Episode (F32.0):
- mindestens zwei der drei Hauptsymptome (typischen Symptome) und zwei der zusätzlichen Symptome vorhanden
- dabei nicht besonders ausgeprägt
- über mindestens 2 Wochen
- optional Bestehen eines „somatischen Syndroms“ (s. u.)
- Es besteht ein deutliches Leiden, die Berufstätigkeit ist aber höchstens teilweise eingeschränkt.
-
Mittelgradige depressive Episode (F32.1):
- mindestens zwei der drei Hauptsymptome (typischen Symptome) und mindestens drei der zusätzlichen Symptome vorhanden
- einige Symptome dabei besonders ausgeprägt „oder durchgehend ein besonders weites Spektrum von Symptomen vorhanden“
- über mindestens 2 Wochen
- optional Bestehen eines „somatischen Syndroms“ (s. u.)
- erhebliches Leiden. „Ein Patient mit einer mittelgradigen depressiven Episode kann nur unter erheblichen Schwierigkeiten soziale, häusliche und berufliche Aktivitäten fortsetzen“.
-
Schwere depressive Episode (F32.2; F32.3):
- alle drei typischen Symptome müssen vorhanden sein und mindestens vier zusätzliche Symptome
- einige der zusätzlichen Symptome sollten ausgeprägt sein
- Die Diagnose kann aber in abweichenden Fällen auch durch „eine zusammenfassende Einschätzung als schwere Episode“ gestellt werden
- in der Regel über 2 Wochen Dauer, bei besonders schweren Fällen aber auch Diagnosestellung „nach weniger als 2 Wochen“ erlaubt.
- Psychotische Symptome (Wahnideen, Halluzinationen oder ein depressiver Stupor) können vorhanden sein (F32.2) oder nicht (F32.3)
- „Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein Patient während einer schweren depressiven Episode in der Lage ist, soziale, häusliche und berufliche Aktivitäten fortzuführen, allenfalls sehr begrenzt
Zur Beurteilung des Schweregrades einer „rezidivierenden depressiven Störung“ gelten zunächst dieselben Kriterien wie bei der einzelnen depressiven Episode
Da es sich definitionsgemäss um mehrere Krankheitsphasen handelt, muss die Beurteilung der jeweils aktuell vorliegenden Situation vor dem Hintergrund des bisherigen Krankheitsverlaufes erfolgen. Es gilt folgende Anweisung:
„Die rezidivierende depressive Störung kann…zunächst durch den Typus der gegenwärtigen Episode und dann, sofern genügend Informationen verfügbar sind, durch den bezogen auf alle Episoden vorherrschenden Typus bezeichnet werden.“ (ICD-10, S. 145)
Wie bei den einzelnen depressiven Episoden werden die rezidivierenden depressiven Störungen unterschieden in:
- Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode (F33.0)
- mit (F33.00) oder ohne (F33.01) somatisches Syndrom
- Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode (F33.1)
- mit (F33.10) oder ohne (F33.11) somatisches Syndrom
- Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome (F33.2)
- Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode mit psychotischen Symptomen (F33.3)
Zusätzlich gibt es (logischer Weise) die Diagnose:
- Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert (F33.4)
Abweichend von der Diagnostik der einzelnen Episoden gilt:
- wenigstens zwei Episoden sollten mindestens 2 Wochen gedauert haben
- zwischen zwei Erkrankungsphasen sollten jeweils mehrere Monate ohne eindeutige affektive Symptomatik liegen!
Achtung!Falls keine eindeutige Trennung von Krankheitsphasen möglich ist, muss die Kategorie
verwendet werden! |
Das „somatische Syndrom“:
Leichte und mittelschwere Depressionen können mit einem sogenannten „somatischen Syndrom“ einhergehen, bei schweren Depressionen darf man generell davon ausgehen, dass ein solches zusätzliches Syndrom besteht. Es besteht nach ICD-10 (S.140)aus den folgenden Symptomen:
- Interessenverlust oder Verlust der Freude an normalerweise angenehmen Aktivitäten
- Mangelnde Fähigkeit, auf eine freundliche Umgebung oder freudige Ereignisse emotional zu reagieren (Anm.: affektive Schwingungsfähigkeit)
- Frühmorgendliches Erwachen; zwei oder mehr Stunden vor der gewohnten Zeit
- Morgentief
- Der objektive Befund einer psychomotorischen Hemmung oder Agitiertheit
- Deutlicher Appetitverlust
- Gewichtsverlust, häufig mehr als 5% des Körpergewichts im vergangenen Monat.
- Deutlicher Libidoverlust.
Für die Diagnoserstellung eines somatischen Syndroms müssen mindestens vier der oben genannten Symptome eindeutig feststellbar sein.
Merke:
„Die Differenzierung zwischen leichter, mittelgradiger und schwerer depressiver Epiosde beruht auf einer komplexen klinischen Beurteilung, die Anzahl, Art und Schwere der vorliegenden Symptome berücksichtigt“ (ICD-10, S. 141)
Differentialdiagnose
Differentialdiagnostisch müssen v.a. ausgeschlossen bzw. berücksichtigt werden:
eine Demenz
eine andere körperliche Erkrankung, als deren Begleiterscheinung oder Folge sich die Depression entwickelt haben könnte
andere psychiatrische Störungen, wie
- eine bipolare Störung (manisch-depressive Krankheit), s. u.
- eine schizophrene oder schizoaffektive Störung (falls psychotische Symptome vorhanden sind)
- eine Dysthymia (chronische, langjährige, vermutlich neurotisch bedingte depressive Gestimmtheit, weniger intensiv, als eine Depression)
- eine „Anpassungsstörung“ (depressive Verstimmung infolge überfordernder Lebensereignisse oder -situationen, weniger intensiv, als eine Depression)
Komorbidität
Komorbiditäten, d. h. das gleichzeitige Vorhandensein von Depressionen und anderen psychischen Störungen sind häufig. Besonders häufig finden sich folgende Kombinationen:
- Depression und Angst
- Depression und Alkoholismus
- Depression und Tabletten- oder Drogenabhängigkeit
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!