Einführung und Überblick
Nach heutiger Auffassung machen Depressionen den Hauptteil der sogenannten „affektiven Störungen“ (=Gemütserkrankungen) aus, sie sind die häufigsten psychiatrischen Erkrankungen älterer Menschen und gehören sogar zu den häufigsten psychischen Krankheiten überhaupt. Nur in etwa der Hälfte der Fälle werden Depressionen von den Hausärzten diagnostiziert, und noch seltener werden sie fachgerecht behandelt. Dabei gibt es heute eine ganze Reihe gut erprobter Behandlungsmethoden, sowohl psychotherapeutische, als auch medikamentöse, um Depressionen wirksam zu behandeln. Damit möchte ich aber nicht sagen, dass Depressionen keine ernst zu nehmenden Störungen sind oder sie bei fachgerechter Behandlung immer eine gute Prognose haben!
Die typischen Symptome einer Depression sind eigentlich jedermann geläufig, so häufig kann man sie bei sich oder bei anderen Menschen beobachten:
- allgemein reduziertes Lebensgefühl (=Vitalstörung)
- hartnäckige, oft „grundlose“, durch äussere Faktoren kaum beeinflussbare depressive Verstimmtheit aller Schweregrade mit Reduktion oder Verlust der „affektiven Schwingungsfähigkeit“, oft „tiefe Traurigkeit“ (Jaspers, 1913)
- Hemmung allen seelischen Geschehens“ (Jaspers, 1913) oder unproduktive Betriebsamkeit
- Interesselosigkeit und Freudlosigkeit (=Anhedonie)
- Antriebsstörung
- Rasche Ermüdbarkeit
- Konzentrationsstörung und Merkfähigkeitsstörung (=depressive Pseudodemenz)
- Schlafstörungen
- Morgentief
- Schuld- und Versagensgefühle, Gefühle innerer Leere und Sinnlosigkeit, Lebensüberdruss- oder Suizidgedanken
- Zukunftsängste, andere Ängste, Hoffnungslosigkeit
- Wut gegen sich selber
- tiefe Verzweiflung
- Verlust des sexuellen Verlangens (Libido-Verlust)
- Appetitlosigkeit, Störung des Essverhaltens
- Körperliche Symptome wie Schwitzen, Kopfschmerzen, andere Schmerzen, Tinnitus, Schwindel
Keines dieser typischen Symptome einer Depression muss vorhanden sein, oft findet sich nur eine individuelle Auswahl der genannten Symptome. Auch der Schweregrad variiert erheblich. In besonders schweren Fällen findet sich ein psychotisches Erleben, v.a. (synthymes) wahnhaftes Erleben:
- VerschuldungswahnVerarmungswahnVersündigungswahnNihilistischer Wahn
- Hypochondrischer Wahn (Überzeugung, (körperlich) unheilbar krank zu sein)
Es gibt auch anders verlaufende Depressionen, bei denen keine „typischen“ Symptome wie oben beschrieben auftreten. Diese Depressionen sind naturgemäss schwerer zu diagnostizieren. Sie werden „atypische Depressionen“ genannt. Statt der typischen Symptome findet man dort eher:
- GewichtszunahmeFresssucht (Hyperphagie)Vermehrtes Schlafbedürfnis
- Massive Kränkbarkeit
Die Definition bzw. die Klassifikation von Depressionen hat sich in den vergangenen Jahren erheblich gewandelt. In der psychiatriegeschichtlichen Tradition verwiesen verschiedene Definitionen auf verschiedene Sichtweisen und Zugangswege zum Störungsbild und zum erkrankten Patienten.
Ein klinisch bedeutsames, wenngleich heute nicht mehr offiziell gültiges Einteilungsschema ist das sogenannte Kielholz-Schema der Depressionen:
Dieses unterscheidet zwischen
- psychogenen Depressionen (neurotische oder reaktive depressive Entwicklungen)endogenen Depressionen (dispositionell, anlagebedingt, „biologisch“) und
- somatogenen Depressionen (organisch-körperlich, durch eine andere Grunderkrankung bedingt)
In den modernen Klassifikationssystemen (ICD-10 und DSM-IV) versucht man bewusst auf theoretische Vorannahmen über die Entstehungsursachen der Depression oder auch anderer Störungsbilder zu verzichten und macht die Definition möglichst ausschliesslich an objektivierbaren, beschreibbaren und „operationalisierbaren Kriterien“ fest. Dieses Vorgehen hat grob gesagt den Vorteil, dass bei entsprechender Schulung auf die vorher festgelegten „Kriterien“ Psychiater und Therapeuten unterschiedlichster Schulen diese Kriterien wiedererkennen und dann bei der Diagnosestellung zum gleichen Ergebnis kommen. Es hat, wenn man der diagnostischen Erfahrung eines Arztes einen Wert beimessen möchte, den Nachteil, dass die diagnostizierenden Ärzte eben nicht mehr ihrer Erfahrung und ihrer Intuition vertrauen können, sondern an das Manual mit den Diagnosekriterien gebunden sind, ferner dass davon abweichende Symptommuster oder Beschwerden nicht in einer Diagnose formuliert werden können und dass die „Validierung“ des Diagnosemanuals, also die Feststellung, ob mit dem Kriteriensatz wirklich das abgebildet wird, was vorgegeben wird (z.B. eine Depression) nur noch den mit der Weiterentwicklung des Manuals befassten Wissenschaftlern und Hochschullehrern vorbehalten bleibt. Pointiert und etwas provokativ formuliert: Der Arzt vor Ort wird gezielt zum „Spezialisten für die Anwendung eines vorgegebenen Diagnosemanuals“ gedrillt und die Forschung läuft Gefahr, sich im Kreise zu drehen und nur noch Belege für die selbst aufgestellten Prämissen (Vorannahmen) zu produzieren ! Da auf theoretische Vorannahmen über die Entstehung der Depression verzichtet werden soll, ist man in der Bezeichnung vorsichtiger geworden. Man spricht nicht mehr von der Depression als „Krankheit„, sondern man spricht von einem „depressiven Syndrom“ und von einer „depressiven Störung“. Die Bezeichnung „depressives Syndrom“ kennzeichnet nur noch eine Gruppe von Kern-Symptomen, die vorhanden sein muss, um die Diagnose stellen zu können. Der Begriff „Störung“ wirkt weniger schwer als „Krankheit“ und öffnet die Türe zu einer „störungsorientierten“ (d.h. Symptom-bezogenen) Forschung und Therapie. Philosophisch-hermeneutische Verstehens- und Forschungsansätze und psychodynamische Therapiemethoden verlieren aktuell eher an Bedeutung zugunsten einer pragmatisch ausgerichteten und am Symptom orientierten Forschung und Therapie. Dazu korrespondiert der Trend, der Behandlung mit und der weiteren Erforschung von Antidepressiva sowie den eher symptomorientierten Psychotherapieverfahren (kognitive Therapie, Verhaltenstherapie) mehr Bedeutung zuzuerkennen. Diese Behandlungs- und Forschungsschwerpunkte finden deshalb auch am ehesten eine begriffliche Entsprechung in den modernen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV.
Die genauen Ursachen einer Depression bzw. depressiver Störungen sind immer noch nicht bekannt. Es gibt allerdings Modellvorstellungen, insbesondere solche, die auf der Annahme von Veränderungen im Hirnstoffwechsel und im Stoffwechsel der Botenstoffe beruhen und Grundlage für die Entwicklung moderner Antidepressiva sind. Bekannt sind in diesem Zusammenhang die Noradrenalinmangelhypothese bzw. die Serotoninmangelhypothese.
Depressive Syndrome kommen häufig gemeinsam mit anderen Erkrankungen vor, teils als eigenständige Störung (echte Komorbidität), teils aufgrund der Überlappung von gemeinsamen Symptomen. Im Bereich der Psychiatrie finden sich z.B. häufig Überschneidungen mit Zwangsstörungen, ferner mit Angststörungen. Oft sind Zwänge oder Ängste aber auch nur der Depression beigemengt. Man spricht dann von „zwanghafter Depression“ oder von einem „ängstlich-depressiven Bild“. Häufig finden sich depressive Syndrome auch in Verbindung mit sogenannten „Persönlichkeitsstörungen“ (einer schwierigen, aber verhältnismässig gerne häufig verwendeten und tradierten Diagnosekategorie), z.B. mit „abhängigen Persönlichkeitsstörungen“, „histrionischen Persönlichkeitsstörungen“ etc…Besonders wichtig ist der Ausschluss einer organischen (körperlichen) Erkrankung, da bekannt ist, dass Depressionen häufig gemeinsam, z.B. als Begleiterscheinung einer (noch unerkannten?) körperlichen Störung (z.B. Tumor, Schilddrüsenerkrankung etc.) auftreten können. Im Alter ist die wichtigste Differentialdiagnose der Depression die Demenz! Wenn also der Verdacht auf eine Depression besteht, ist eine gründliche körperliche, internistisch-neurologische Untersuchung inklusive Laborscreening und evt. bildgebende Verfahren notwendig!Depressive Störungen können als einzelne Phasen („depressive Episode“) oder (meist) wiederkehrend auftreten („rezidivierende depressive Störung“). Im statistischen Mittel durchlebt jeder Erkrankte im Laufe seines Lebens vier depressive Phasen. Der Verlauf kann „rein depressiv“ sein, dann spricht von einer sogenannten „uni“- oder „monopolaren Störung“. Das ist die häufigste Variante. Daneben gibt es aber auch Verläufe, bei denen nach einer depressiven Phase eine sogenannten „manische“ Phase folgt (70% der Fälle!), oder eine Manie einer Depression vorausgeht. Man spricht dann von einer „bipolaren Störung“ (früher: „manisch-depressive Erkrankung“). Obwohl auch die Ursachen der bipolaren Störung nicht genau bekannt sind, gibt es Hinweise, dass es sich um eine eigenständige Erkrankung handelt. Sie wird deshalb an in einer eigenen „Rubrik manisch-depressive Störung“ abgehandelt. Bei der Behandlung depressiver Syndrome kommen medikamentöse und psychotherapeutische Methoden zum Einsatz. Medikamente, die gegen Depressionen wirken, heissen „Antidepressiva“. Es gibt unter den Antidepressiva verschiedene Wirkgruppen, z.B. die alt bewährten, nachweislich wirksamen, aber recht „giftigen“ und nebenwirkungsreichen „klassischen Antidepressiva“ (Trizyklika, Tetrazyklika, MAO-Hemmer) und neuartige, ebenfalls offensichtlich gut wirksame, aber für weniger gefährlich gehaltene Substanzen, wie etwa die Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI). Zu beachten ist, dass grundsätzlich bei allen Antidepressiva meist vorübergehend z.T. sehr unangenehme Nebenwirkungen auftreten können. Für alle Antidepressiva trifft ausserdem zu, dass die Nebenwirkungen sofort, die eigentlich erwünschten antidepressiven Wirkungen aber erst nach ca 14 Tagen, manchmal noch später, seltener früher auftreten und in manchen Fällen sogar ganz ausbleiben können. In der „Einstellungsphase“ heisst es also: durchhalten! Ein vorzeitiger Abbruch oder Medikamentenwechsel bedeutet (von ganz gravierenden Nebenwirkungen abgesehen) in der Regel lediglich Zeitverschwendung!!! Depressive Phasen bei den bipolaren Verlaufsformen werden ebenfalls mit Antidepressiva behandelt. Zusätzlich kommen sogenannte Mood-Stabilizer bzw. Antimanika (Valproinsäure, Carbamazepin, Lithium) zum Einsatz. Diese Substanzen haben einen zum Teil noch unbekannten Wirkmechanismus, führen aber zu einer Abmilderung der „Stimmungsschwankungen“. Diese Substanzen werden bei der bipolaren Störung abgehandelt Die angewandten, spezialisierteren psychotherapeutischen Verfahren lassen sich grob in sogenannte „kognitiv-behaviorale Verfahren“ und „tiefenpsychologische Verfahren“ aufteilen. An dieser Stelle kann nicht näher auf die Psychotherapie der Depressionen eingegangen werden.
Akute Krise und Suizidalität
In der akuten Krise, z.B. bei einem depressiven Zusammenbruch oder bei Suizidimpulsen/nach Suizidversuch, ist es vordringlich, den Patienten zu begleiten, zu führen und zu schützen. Das Verfahren nennt sich „Krisenintervention“. Es kann im Bedarfsfall zur Verhütung von Selbst- oder Fremdgefährdung auch gegen den Willen des Patienten durchgeführt werden, wenn es sich nicht vermeiden lässt!Ob nach Symptombesserung der Krisenintervention eine „Psychotherapie im eigentlichen Sinne“ folgen muss, ist nach Meinung des Autors in jedem Fall zu prüfen. Denn: Psychotherapien stellen immer ein Wagnis dar, sie sind immer eingreifend und müssen deshalb ausdrücklich vom Patienten gewollt sein. Es braucht zur Durchführung einer Psychotherapie, ebenso wie zur Durchführung einer spezifischen antidepressiven medikamentösen Behandlung den Auftrag des Patienten! Da die genaue Ätiologie und Entstehung von Depressionen nicht bekannt ist, sind auch Aussagen zur Prognose der Depressionen im Einzelfall schwierig. Die Prognose ist aber sicher auch davon abhängig, ob und wann die Störung diagnostiziert und behandelt wird. Die Dauer unbehandelter Depressionen beträgt im Mittel 6 – 12 Monate. Bei behandelten Depressiven fanden sich nach 6 Monaten Behandlungsdauer folgende Zahlen:
- vollständige Heilung bei weniger als 50%34% mittelschwere Restsymptomatik
- 19% schwere Restsymptomatik
Als prognostisch ungünstige Faktoren wirken:
- Ein erhöhtes Suizidrisiko
- Ein höheres Lebensalter bzw. ein Ersterkrankungsalter >50J
- Eine Phasendauer von >2 Jahren bzw. eine fehlende Remission (=Rückbildung) innerhalb 5 Jahre
- Belastende „life-events“Fehlendes soziales Netz Häufigkeit früherer Episoden
- Das Vorliegen einer neurotischen Persönlichkeitsstruktur
- Eine nur unvollständige Remission
- Gleichzeitige Angststörung und/oder Substanzmissbrauch!!!
- Depressionen bei Verwandten 1. Grades
Insgesamt ist die Prognose depressiver Störungen also zumindest schlechter, als oft glaubhaft gemacht werden soll. Etwa 15% verlaufen chronifizierend, 10-20% der Depressiven sterben an Suizid!
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