Inhalt

Diagnostik (Methodik und Instrumenatarium)

Methodik

„Die Diagnosestellung sowohl in ICD-10 als auch in DSM-III-R bzw. DSM-IV erfolgt…nach dem typologischen bzw. Prototypen-Modell…Hierzu wird in Form von Merkmalskatalogen eine Reihe von Verhaltensmerkmalen als Kriterien aufgelistet, die insgesamt eine „idealtypische“ Beschreibung der jeweiligen Persönlichkeitsstörung darstellen soll. Die Diagnose darf nur dann gestellt werden, wenn die Person aus dieser Liste von diagnostischen Kriterien eine vorgegebene Mindestzahl erfüllt. Es wird jedoch kein spezifisches Muster vorgeschrieben, so daß zwei Personen dieselbe Diagnose erhalten können, obwohl sie unterschiedliche Kombinationen von diagnostischen Kriterien aufweisen. Dieser polythetische Algorithmus trägt …der Komplexität des Persönlichkeitskonstrukts…“ (Sass, 1998, OPD, S. 42)

Bei der Diagnostik nach den modernen Klassifikationsmanualen (ICD-10 und DSM-IV) handelt es sich um eine sogenannte „operationale Diagnostik“

Dabei verbirgt sich hinter dem Stichwort „operationale Diagnostik“ eigentlich nicht eine Operationalisierung im wissenschaftlichen Sinne, sondern lediglich eine „semantische Definition“ (vgl. Kendell, 1978).

Zur operationalen Diagnostik gehört die Einführung von Symptom-, Zeit- und Verlaufskriterien und entsprechenden Algorithmen zur Diagnosenstellung. (vgl. auch Stieglitz, 1999)

„ICD-10 und DSM-IV sind beide einem sog. atheoretischen, deskriptiven Ansatz verpflichtet. Entsprechend dem unbefriedigenden Wissensstand über psychiatrische Störungen versuchen beide ätiologische Annahmen (von wenigen Ausnahmen abgesehen) sowie diagnostische Hierarchieregeln aufzugeben, um eine möglichst präzise und umfassende Beschreibung von psychiatrischen Störungsgruppen gewährleisten zu können. Diese sollen dann als Ausgangspunkt empirischer Studien dienen können. Das Postulat eines atheoretischen Ansatzes ist jedoch nur z.T. eingehalten worden, da eine Reihe von Annahmen in die Entwicklung eingegangen sind (z.B. Kategorien als theoretische Annahmen über die Art der Störungen, Symptome als Zeichen von Störungen, polythetischer Ansatz…“ (Stieglitz, 1999, S. 227)

Sowohl ICD-10 als auch DSM-IV orientieren sich bei der Klassifikation an allgemeinen diagnostischen Kriterien (DSM-IV) bzw. Leitlinien (ICD-10).
Dazu Fiedler (1994, S. 152) kritisch:

„Diese Leitorientierung ist (jedenfalls, solange von „Persönlichkeitsstörungen“ gesprochen wird) geradezu ein Prototyp für die Personperspektivierung einer Interaktionsstörung, die fälschlicherweise beinhaltet, daß sich die den Persönlichkeitsstörungen zugrunde liegenden Verhaltensmuster über längere Zeit hinweg, relativ kontextunabhängig und wenig variabel „abnorm“ darstellen – so legen es (leider) die Operationalisierungen im DSM-IV wie in der ICD-10 nahe.“

Prinzip dabei ist nicht mehr die Stellung einer nosologischen Diagnose, sondern „eine möglichst differenzierte Kennzeichnung von Störungen. Diese Beschreibung und Differenzierung erfolgt im wesentlichen im Hinblick auf das Erscheinungsbild einer Erkrankung, dem Schweregrad oder dem Verlauf.“ (Stieglitz, 1999, S. 229)

Weitere Kennzeichen operationaler Diagnostik sind

  • das Konzept der Komorbidität und
  • der polythetische Ansatz (es muß lediglich ein Mindestmaß an diagnostischen Kriterien für die Diagnose erfüllt sein und nicht der komplette Kriteriensatz)

Für die Klassifikation der Persönlichkeitsstörungen sind auf der genannten operationalen Grundlage für beide Klassifikationssysteme (DSM-IV und ICD-10)

  • allgemeine diagnostische Kriterien/Leitlinien
  • störungsspezifische Ein- und Ausschlusskriterien (incl. Zeit- und Verlaufskriterien)

vorgegeben, die nach einem polythetischen Ansatz zur Diagnose führen sollen.

Instrumentarium

Ein Hauptproblem nicht-operationaler psychiatrischer Diagnostik war die mangelnde „Reliabilität“ psychiatrischer Diagnosen, wobei unter „Reliabilität“ v.a. die sogenannte „Interrater-Übereinstimmung“ gemeint ist, d.h. unterschiedliche Diagnostiker kommen bei demselben Patienten zu unterschiedlichen Diagnosen.

Auch bei der Benutzung moderner operationalisierter Klassifikationssysteme (ICD-10 und DSM-IV) treten nach Stieglitz (1999) häufig folgende Fehler im diagnostischen Prozeß auf:

  • Nichtbeachtung der Symptom-, Zeit- und Verlaufskriterien
  • Falsche Interpretation diagnostischer Begriffe aufgrund fehlender oder unpräziser Definitionen
  • Nichtberücksichtigung der Ausschlusskriterien
  • Nichtberücksichtigung des Komorbiditätsprinzips
  • Beeinflussung durch theoretische Konzepte, die nichts mit der Diagnose zu tun haben (z.B. verschiedene Borderline-Konzepte)
  • Einfluß eigener diagnostischer Unsicherheit bei der Entscheidung für eine Diagnose (z.B. Borderline-Störung, schizoaffektive Störung)
  • Rückschluß auf eine Diagnose aufgrund eines singulären Phänomens (z.B. hysterisch = hysterische Persönlichkeitsstörung)
  • Falsche Schlußfolgerungen (z.B. Halo-Effekt)

Ein wesentlicher Faktor zur Vermeidung von Fehlern ist die Standardisierung der Datenerhebung mittels entsprechender Fragebögen bzw. Interviewleitfäden.
Unterschieden werden

  • Selbstbeurteilungsfragebögen
  • Checklisten und
  • Strukturierte und standardisierte Interviews.

Bekannt und gut untersucht sind z.B.

  • das Diagnostic Interview for Borderlines (DIP) (Gunderson, Kolb u. Austin, 1981)
  • die Psychopathy Checklist (PCL) (Hare, 1985)
  • das Inventory of Interpersonal Problems (IIP-C/-D) (z.B. Horowitz, Strauss u. Kordy, 1994)
  • die International Personality Disorder Examination (IPDE) (Mombour et al., 1996)
  • die MMPI Scales for DSM-III Personality Disorders (MMPI-PD) als Selbstbeurteilungsverfahren (z.B. O’Maille u. Fine, 1995).

Diagnostische Leitkriterien moderner Klassifikationssysteme

DSM-IV – diagnostische Leitkriterien:

„Persönlichkeitszüge stellen überdauernde Formen des Wahrnehmens, der Beziehungsgestaltung und des Denkens über die Umwelt und über sich selbst dar. Sie kommen in einem breiten Spektrum sozialer und persönlicher Situationen und Zusammenhänge zum Ausdruck. Nur dann, wenn Persönlichkeitszüge unflexibel und unangepaßt sind und in bedeutsamer Weise zu Funktionsbeeinträchtigungen oder subjektivem Leiden führen, bilden sie eine Persönlichkeitsstörung. Das wesentliche Merkmal einer Persönlichkeitsstörung ist ein andauerndes Muster von innerem Erleben und Verhalten, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht und sich in mindestens zwei der folgenden Bereiche bemerkbar macht:
Denken, Affektivität, Beziehungsgestaltung oder Impulskontrolle (Kriterium A).
Dieses überdauernde Muster ist in einem weiten Bereich persönlicher und sozialer Situationen unflexibel und tiefgreifend (Kriterium B)
Es führt in klinisch bedeutsamer Weise zu Leiden oder zu Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen (Kriterium C)
Das Muster ist stabil und langdauernd und sein Beginn kann zumindest bis zur Adoleszenz oder bis zum frühen Erwachsenenalter zurückverfolgt werden (Kriterium D).
Das Muster kann nicht besser als Manifestation oder Folgeerscheinung einer anderen psychischen Störung erklärt werden (Kriterium E)
Und geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z.B. Droge, Medikament, Exposition gegenüber einem Toxin) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors (z.B. ein Kopftrauma) zurück (Kriterium F).“ (APA, 1996, S. 712)

ICD-10 – diagnostische Leitkriterien (nach Möller, 2000, S. 1525):

Die charakteristischen und dauerhaften inneren Erfahrungs- und Verhaltensmuster des Betroffenen weichen insgesamt deutlich von kulturell erwarteten und akzeptierten Vorgaben („Normen“) ab.
Diese Abweichung äussert sich in mehr als einem der folgenden Bereiche:

  • Kognition
  • Affektivität
  • Zwischenmenschliche Beziehungen und die Art des Umganges mit ihnen

Die Abweichung ist so ausgeprägt, dass das daraus resultierende Verhalten in vielen persönlichen und sozialen Situationen unflexibel, unangepasst oder auch auf andere Weise unzweckmässig ist (nicht begrenzt auf einen speziellen „triggernden“ Stimulus oder eine bestimmte Situation).

Persönlicher Leidensdruck und nachteiliger Einfluss auf die soziale Umwelt oder beides sind deutlich dem oben beschriebenen Verhalten zuzuschreiben.

Es braucht den Nachweis, dass die Abweichung stabil, von langer Dauer ist und im späten Kindesalter oder der Adoleszenz begonnen hat.

Die Abweichung darf nicht durch das Vorliegen oder die Folge einer anderen psychischen Störung des Erwachsenenalters erklärt werden können. Es können aber episodische oder chronische Zustandsbilder der Kapitel F0 bis F7 neben dieser Störung existieren oder sie überlagern.

Eine organische Erkankung, Verletzung oder deutliche Funktionsstörung des Gehirns müssen als mögliche Ursachen für die Abweichung ausgeschlossen werden (falls eine solche Verursachung nachweisbar ist, darf nicht eine Persönlichkeitsstörung, sondern muss stattdessen die Kategorie F7 verwendet werden.)

Komorbiditäten

Wichtig ist es bei der Diagnostik der Persönlichkeit, sogenannte „Komorbiditäten“ zu erkennen.

Was ist mit Ko-Morbidität gemeint?
Bezogen auf die bisherige Tradition bedeutet die Einführung des Komorbiditäts-Konzeptes (ICD-10 und DSM-IV) die Abkehr von der Hierarchie- und Schichtenregel Jaspers (1973), derzufolge psychische Erkrankungen in Schichten angeordnet sind, die von den organischen, über die affektiven bis hin zu den neurotischen Erkrankungen reichen. Die Schichtenregel postuliert nun für den diagnostischen Prozeß, daß die jeweils tiefer liegende Erkrankung die Diagnose darstellt.

Komorbidität meint dagegen das gleichzeitige und gleichberechtigte Nebeneinander-Vorhandensein einer oder mehrerer voneinander unabhängiger Erkrankungen auf einer kategorial-syndromalen Betrachtungsebene. Gemeint ist dabei sowohl sukzessive (Längsschnitt) als auch simultane (Querschnitt) Komorbidität.

Ein Maß für die Komorbidität ist die sogenannte Odds Ratio, deren Wert angibt, um wieviel mal höher als die eigentliche Erwartung das Zusammentreffen von Störungen tatsächlich ist. Erst Zahlenwerte zwischen 2 und 3 gelten als „bedeutsam“, Werte über 3 als „klinisch sehr relevant“ (Angst, 1994). Exakte Beurteilung von Komorbidität benötigt exakte Definitionen von Störungsbildern.
Die Prototypenperspektive der Persönlichkeitsstörungen wird zwar einerseits wegen ihrer unscharfen Grenzen der Komplexität der Persönlichkeit besser gerecht, andererseits ergeben sich vielfältige Kriterienüberlappungen sowohl innerhalb der einzelnen Persönlichkeitsstörungen als auch zu anderen psychischen Störungen, die eine zuverlässige Komorbiditätsfeststellung erschwert.

Es bleibt eine schwierige Aufgabe, echte Komorbidität von Artefakten diagnostischer Überlappungen zu unterscheiden (vgl. auch Clark et al. (1995))
Weil die Komorbidität zu anderen psychischen Störungen derart häufig ist, befindet sich die Kategorie der „Persönlichkeitsstörungen“ im DSM-III-R und DSM-IV konsequenterweise auf einer eigenen Achse (II). Vermutlich wegen der genannten und weiterer (vgl. unten) Schwierigkeiten, Zusatzsymptome zuverlässig als echte Komorbiditäten abzugrenzen, sind die Ergebnisse von Komorbiditätsstudien sehr verschieden.. Möller (2000, S. 1546) präsentiert eine Übersicht einer Studie von Alnaes und Torgerson, 1988), bei der sich „eine nahezu völlig fehlende Spezifität der Komorbidität für alle Persönlichkeitsstörungen“ findet (s.a. Abb./Folie 12 im Anhang).

„Wenn jedoch die Komorbidität von klinischen Syndromen wie Depression, Angst, Zwang, Sucht, Eßstörungen und Somatisierungsstörungen mit Persönlichkeitsstörungen in bezug auf den Behandlungsausgang betrachtet wird, so zeigen die meisten Therapiestudien einen schlechteren Verlauf und Ausgang der Patienten mit Persönlichkeitsstörungen gegenüber den Patienten ohne Persönlichkeitsstörungen“ (Bronisch, 2000, S. 1546). Vgl. dazu auch Reich und Vasile, 1993; Stieglitz, 1999)

Exkurs: Grundlagen der Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen

Es gibt eine Vielzahl von Einteilungsversuchen von Persönlichkeitseigenschaften in der Geschichte der Psychiatrie.
Grundsätzlich kann man zwischen zwei Möglichkeiten der Erfassung bzw. Klassifizierung von Persönlichkeitseigenschaften unterscheiden:

  • kategorial und
  • dimensional

Die kategoriale Bestimmung kommt z.B. bei den

  • historischen Typologien und auch bei den
  • modernen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV zum Einsatz, einbegriffen das Drei-Cluster-Konzept der amerikanischen Psychiatrie

Diese Systeme unterscheiden mehr oder weniger scharf und v.a. qualitativ aufgrund bestimmter Kriterien zwischen unterschiedlichen Persönlichkeitstypen, Prototypen etc.

Die dimensionale Bestimmung gehen demgegenüber von kontinuierlichen Übergängen zwischen

  • normaler und gestörter Persönlichkeit einerseits und
  • den Persönlichkeitsstörungen untereinander aus

und versucht, Persönlichkeitsprofile durch Dimensionierung weniger, faktoren- oder clusteranalytisch gewonnener allgemeiner Persönlichkeitsgrundmerkmale zu erstellen.

Die kategoriale Erfassung

Historische Typen

Hier führt Bronisch (2000) eine „verwirrende und widersprüchliche Vielfalt von Typen“ auf, die er in vier Untergruppen sortiert.
Diese Persönlichkeitstypen haben im geschichtlichen Verlauf zum Teil ihre ursprüngliche Bedeutung verloren, sie sind zum großen Teil nicht mehr gebräuchlich. Aus vielen früheren „Störungen“ sind heutige „Tugenden“ geworden.
Dies verweist auf eine bedeutsame Kontextabhängigkeit der Konzeptualisierung von „Persönlichkeitsstörungen“.

Bronisch (2000, S. 1526) schreibt dazu:

  • „Niemand ist mehr irritiert von sexuell promiskuitivem Verhalten oder von einer Wehrdienstverweigerung, die ein Recht in einer demokratischen Gesellschaft darstellt.
  • Der politisch Fanatische wird nicht mehr als Fall für die Psychiatrie angesehen, sondern womöglich bewundert von Leuten mit ähnlichen Vorstellungen (z.B. Fundamentalisten jeglicher Ideologie).
  • Die streitbare Persönlichkeit kann ihre Forderungen mit Hilfe cleverer Rechtsanwälte oder Institutionen in westlichen Gesellschaften durchzusetzen versuchen, in denen entsprechende Anliegen durch Gewerkschaften und politische Parteien sozial abgesichert sind.
  • Das Konstrukt des „Willens“ ist in der modernen Psychiatrie nicht mehr valide und ist teilweise durch Konzepte wie „Arousal“ und Motivation ersetzt worden.
  • Was den infantilen Typ betrifft, so ist die ganze westliche Kultur „infantil“ geworden, wenn man Fernsehsendungen mit hohen Einschaltquoten, die Regenbogenpresse, die Werbung etc. betrachtet.“
Moderne Klassifikationssysteme. Beispiel: das „Drei-Cluster-Modell“ der amerikanischen Psychiatrie

Man kann die Persönlichkeitsstörungen in drei Hauptgruppen, sogenannte Cluster einteilen:

Cluster A beinhaltet die sonderbaren, bzw. exzentrischen P.:
Die schizotypische Störung gilt als Prototyp des Clusters.

  • paranoide Persönlichkeitsstörung
  • schizoide Persönlichkeitsstörung
  • schizotypische Persönlichkeitsstörung

Cluster B beinhaltet die dramatischeren, emotional betonten und mit launischem Verhalten einhergehenden Störungen:
Die Boderline-Störung gilt als Prototyp des Clusters.

  • histrionische Persönlichkeitsstörung
  • narzißtische Persönlichkeitsstörung
  • antisoziale Persönlichkeitsstörung
  • Borderline-Persönlichkeitsstörung

Cluster C beinhaltet die ängstlicheren Typen von Persönlichkeitsstörungen:
Die selbstunsichere P. gilt als Prototyp dieses Clusters.

  • selbstunsichere Persönlichkeitsstörung
  • abhängige Persönichkeitsstörung
  • zwanghafte Persönlichkeitsstörung
  • passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung

Das Drei-Cluster-Verfahren ist ein sogenanntes kategoriales Klassifikationsverfahren, indem die Diagnosen danach gestellt werden, ob die entsprechenden Kernsymptome in ausreichender Zahl vorhanden sind oder nicht.

Gegen das Clustermodell sind verschiedene Einwände ins Feld geführt worden. So ließ sich die Trennung der Cluster empirisch nicht bestätigen (Livesley et. al., 1989). Außerdem fanden sich bei verschiedenen Studien (Loranger et al. 1994; Bronisch und Mombour 1994) häufige Mehrfachdiagnosen einzelner Persönlichkeitsstörungen, die die Clustereinteilungen überschreiten (Bronisch 1992). Offenbar hängt die Anzahl der Persönlichkeitsstörungen bei einem Patienten mit dem Schweregrad der vorliegenden Persönlichkeitspathologie zusammen (Tyrer und Johnson 1996).

Die dimensionale Erfassung

„Aufgrund der großen Überlappung von Persönlichkeitsstörungen und den nahezu willkürlichen „cut-off points“ für die Definition von Persönlichkeitsstörungen, sind dimensionale Modelle von Persönlichkeitsstörungen entwickelt worden. Mit der dimensionalen Erfassung läßt sich das Kontinuum zwischen normalen und pathologischen Persönlichkeitszügen besser beschreiben, und Persönlichkeitszüge von verschiedenen Persönlichkeitsstörungen können in Form eines Persönlichkeitsprofils dargestellt werden (Widiger 1991). Forschungsergebnisse favorisieren ein dimensionales Modell gegenüber einem kategorialen Modell (ebd.).

Hierzu existieren mindestens 6 unterschiedliche Modelle (Bronisch und Mombour 1998):

  1. Cloninger (1986) beschreibt ein 3dimensionales Modell mit den Faktoren „harm avoidance“, „novelty seeking“ und „reward dependence“, die neurogene Mechanismen des Lernens repräsentieren.
  2. Livesley et al. (1989) schlagen ein 15dimensionales Modell vor, basierend auf einer Faktorenanalyse von 100 Skalen, die mit Hilfe epidemiologischer Studien und einm Überblick über die klinische Literatur gewonnen wurden
  3. Kiesler (1983) entwickelte ein Circumplex-Modell mit 2 basalen interpersonellen Dimensionen „dominance“ und „affiliation“.
  4. Die Persönlichkeitsstörungen sind in DSM-III/IV in 3 Cluster aufgeteilt (Cluster A, B, C), die 3 Dimensionen entsprechen können, welche die einzelnen Persönlichkeitsstörungen voneinander trennen bzw. charakterisieren.
  5. Costa und McCrae (1992) formulierten ein Fünffaktorenmodell, bestehend aus den 5 Dimensionen „neuroticism“, „extraversion“, „openess“, „agreeableness“ und „conscientiousness“.
  6. Ein sehr einfaches Modell ist die International Personality Disorders Examination (Loranger et al. 1994). Die offiziellen kategorialen Typen sind als Dimensionen genommen worden. Es gibt keinen cut-off point, und jedes Individuum ist durch alle Typen und ihre entsprechenden Scores repräsentiert.“ (Bronisch, 2000, S. 1528)

Die aktuelle Ko-Existenz unterschiedlicher miteinander konkurrierender dimensionaler Persönlichkeitsmodelle ist der vorläufige Endpunkt langjähriger Versuche empirisch arbeitender Psychologen, mit Hilfe der Faktorenanalyse psychometrisch erhobener Persönlichkeitsdaten die gefundenen Merkmale auf ein Grundgerüst dimensionierbarer Persönlichkeitseigenschaften zurückzuführen.

Im Bereich der psychiatrischen Tradition hat insbesondere Kretschmer mit seiner Temperamentenlehre, im Bereich der psychoanalytischen Tradition C.G. Jung mit seinem Extraversions-Introversions-Konzept wichtige Akzente in Richtung einer dimensionalen Auffassung von Persönlichkeitsmerkmalen gesetzt.
Dennoch entspringen die dimensionalen Ordnungsversuche ganz überwiegend den Forschungsarbeiten der Psychologie.

Die flächendeckende Einführung dieser Methodik bedeutete einen Paradigmawechsel weg von der verstehenden Charakterologie, die durch L. Klages (1920; 1926) begründet und mit Ausarbeitung der „Schichten-Modell der Persönlichkeit“ durch Rothacker (1938), Lersch (1938) und Wellek (1966) weitergefüht wurde, hin zu einer „empirisch-experimentellen Persönlichkeitsforschung“. Als Markstein dieses Paradigmenwechsels gilt der 14. Internationale Kongreß für Psychologie in Montreal (1954), an dem Eysenck die Charaktertheorien als „Ausschmückungen persönlicher Erfahrung mit höchstens hypothesengenerierendem Charakter“ betitelte und für die Zukunft experimentelle, reliable und valide Zugangswege forderte. (vgl. Fiedler, 1994, S. 118 f).Versuche der Dimensionierung von Persönlichkeitszügen finden sich schon bei dem Psychologen W. Wundt (1903), der die Eigenschaften der vier Typen der Temperamentenlehre in einem dimensionalen System mit zwei Achsen, nämlich „geringe vs. ausgeprägte Emotionalität“ und „Wandelbarkeit vs. Unwandelbarkeit“, unterzubringen suchte.
Später haben im Bereich der Psychiatrie Kretschmer mit seiner Temperamentenlehre, im Bereich der Psychoanalyse C.G.Jung mit seinem Extraversion-Introversion-Konzept Dimensionen von Persönlichkeitenseigenschaften beschrieben.In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts blieb als übereinstimmende Schnittmenge vielfacher Dimensionierungsversuche ein eindimensionales Schema übrig, mit dem Versuch, psychische Phänomene zwischen den beiden Polen Extraversion vs. Introversion unterzubringen.

Die Verbesserung statistischer und insbesondere faktorenanalytischer Auswertungsmethoden bedeutete dann einen erheblichen Sprung in Entwicklung dimensionaler Systeme, von denen die wichtigsten im Folgenden stichpunktartig dargestellt werden sollen, das sind

  • das dimensionale Persönlichkeitsmodell von Eysenck (1952; 1970)
  • das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit (die sog. Big Five)
Das dimensionale Persönlichkeitsmodell von Eysenck

Eysenck versuchte, Persönlichkeitsmuster faktorenanalytisch durch zwei oder drei (eher breite) Hauptfaktoren (Dimensionen) zu begründen und schließt dabei einerseits an die Überlegungen Wundts und Jungs an. Andererseits setzt er eine Entwicklungslinie dimensionaler Persönlichkeitsmodelle innerhalb der Psychologie von Guilford (1974) und Cattell (1950) fort. Eine Grundannahme des Eysenckschen Modells ist die biologische Verankerung von Persönlichkeitsmerkmalen. Die „Diathese“ ist somit wesentlicher ätiologischer Faktor, während psychosoziale Faktoren die Fluktuationen des Verhaltens in konkreten Situationen sowie die individuellen Ausformungen wesentlich mitgestalten.

Darüberhinaus fußen Eysencks Ansichten auf folgender Definition der Persönlichkeit:
Persönlichkeit sei „die mehr oder weniger stabile und dauerhafte Organisation des Charakters, Temperaments, Intellekts und Körperbaus eines Menschen, die seine einzigartige Anpassung an die Umwelt bestimmt. Der Charakter eines Menschen bezeichnet das mehr oder weniger stabile und dauerhafte System seines konativen Verhaltens (des Willens); sein Temperament das mehr oder weniger stabile und dauerhafte System seines affektiven Verhaltens (der Emotion oder des Gefühls); sein Intellekt das mehr oder weniger stabile und dauerhafte System seines kognitiven Verhaltens (der Intelligenz); sein Körperbau das mehr oder weniger stabile System seiner physischen Gestalt und neuroendokrinen (hormonalen) Ausstattung“ (Eysenck, 1970, S. 2, zit. n. Fiedler, 1994, S. 123)

In seinem ersten Modell ordnete Eysenck die Persönlichkeitseigenschaften auf den beiden Dimensionen Neurotizismus und Extraversion-Introversion ein, die denen der Emotionalität und Wandelbarkeit bei Wundt entsprechen. Die beiden Dimensionen sind auch zugleich die beiden Grundtypen der Persönlichkeit nach Eysenck.
Bezüglich der biologischen Grundlagen postuliert Eysenck einen Zusammenhang zwischen

  • „Neurotizismus“ und hereditärer Labilität des autonomen NS, v.a. des Limbischen Systems
  • Extremisierungen in der Dimension „Extraversion-Introversion“ und Verschiebungen im Gleichgewicht zwischen Hemmung und Erregung in der Formatio reticularis
  • Inzwischen überprüft Eysenck (1980 b) eine dritte Dimension, die des Psychotizismus versus Impuls- oder Antriebskontrolle., die ebenfalls wesentlich vererbt werden soll und die bei Schizophrenen und Dissozialen besonders ausgeprägt sein soll.

Die beschriebenen Dimensionen sind mit den in psychiatrischen Klassifikationssystemen beschriebenen Persönlichkeitsstörungen nur wenig kompatibel. Lediglich in der Psychotizismus-Dimension fand sich ein Zusammenhang mit der gewohnheitsmäßigen Kriminalität, während demgegenüber hohe Neurotizismuswerte nicht mit der psychiatrischen Diagnose „neurotisch“ korrelierten. Offenbar geben die Eysenckschen Koordinaten, so seine eigene Vermutung, v.a. einen Hinweis auf eine zugrundeliegende „Vulnerabilität“ bzw. „Disposition“ zur Störung in der einen oder anderen Richtung, während die Frage der manifesten Erkrankung an weitere Faktoren ( z.B. auch Kombinationsweisen der drei Dimensionen ?) geknüpft bleibt.

Das Fünf-Faktoren-Modell (die „Big-Five“)

Eysencks Vorschlag, von drei grundlegenden Persönlichkeitsdimensionen auszugehen, blieb in der differentiellen Psychologie umstritten. Neue faktorenanalytische Untersuchungen seit Mitte der siebziger Jahre (Types und Christal, 1961& Norman, 1963; Digman und Takemoto-Chock, 1981; Amelang und Borkenau, 1982) scheinen eine auf Fiske (1949) zurückgehende Forschungstradition zu bestätigen, derzufolge bei Vergleichen zwischen Selbst- und Peer- (= Bekannten-) Beurteilungen wiederholt fünf einander ähnliche Faktorenstrukturen gefunden wurden. Fiske (1949) nannte die gefundenen Faktoren

  • social adaptability
  • emotional control
  • conformity
  • inquiring intellect
  • confident self-expression

Es gibt weitere Untersuchungen jüngeren Datums mit ähnlichen Ergebnissen. Costa und McCrae (1989; in dt. Übersetzung: Borkenau und Ostendorf, 1994) legten einen Fragebogen (NEO-FFI) vor, der direkt auf die Erfassung der „big five“ abzielt. Sie nannten die gefundenen Dimensionen

  • Neuroticism
  • Extraversion
  • Openess to experience
  • Aggreeableness
  • Conscientiousness

Versuche von von Zerssen (1988, 1993), mittels eines bei Untersuchungen zur prämorbiden Persönlichkeit depressiver Patienten faktorenanalytisch generierten fünfdimensionalen Persönlichkeitsmodells, die Persönlichkeitsstörungen des DSM-III-R zu beschreiben, sind bis auf die paranoide und die narzißtische Persönlichkeitsstörung gelungen. Die fünf Dimensionen heißen

  • Neurotizismus
  • Extraversion
  • Rigidität
  • Isolationstendenzen
  • Esoterische Tendenzen

Bislang steht die Forschung zu den „big five“ noch am Anfang. Die Bezeichnung für die gefundenen Faktoren sind noch sehr heterogen.
Es gibt inzwischen auch Versuche, die im DSM-III-R definierten Persönlichkeitsstörungen nach dem Fünf-Faktoren-Modell des NEO-FFI zu dimensionieren (vgl. Costa und Widiger, 1993).
Fiedler (1994, S. 131) weist darauf hin daß bei der Betrachtung der Ergebnisse ins Auge falle, daß Menschen mit der Diagnose „Persönlichkeitsstörungen“ offenbar „neurotische“ Eigenschaften besäßen, d.h. im Sinne der „big-five“-Konzeption, daß sie

  • sehr verletzbar,
  • überempfindlich gegenüber Anforderungen und Streß,
  • rasch hilflos und,
  • mit sozialen Ängsten behaftet seien.

Trotz dieser Erfolge des Fünf-Faktoren-Modells scheint ein Hinweis auf gewisse Vorbehalte gegenüber einem zu großen Enthusiasmus gerechtfertigt. Die Vorbehalte beziehen sich z.B. auf

  • die noch fehlende Einbettung des bislang rein deskriptiven Modells in eine integrierende Theorie,
  • die noch sehr uneinheitliche Interpretation der gefundenen Faktoren. (vgl. Fiedler, S. 132)

Reliabilität und Validität

Reliabilität

Die Anstrengungen der Diagnostikforschung in den letzten Jahren gehen in Richtung der Entwicklung neuer objektiver Erhebungsinstrumente. Ziel der Bemühungen ist das Erreichen von

  • Objektivität
  • Zuverlässigkeit und
  • Interner Konsistenz der angegebenen Verfahren (Fiedler, 1994, S. 359)

Bezüglich der Reliabilität der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen muß Erwähnung finden, daß die Operationalisierung alleine keine wesentliche Verbesserung der Reliabilität gebracht hat (Mellsop et al. 1982), sondern erst die Einführung von Untersuchungsinstumenten. Für eine ausreichende Reliabilität werden nach Fleiss (1981) Kappawerte von 0,40 und mehr veranschlagt, für eine ausgezeichnete Reliabilität Werte von 0,7 und mehr.
Entsprechende Studien haben für den IPDE bei verschiedenen Persönlichkeitsstörungen Kappawerte zwischen 0,76 und 0,96 ergeben, für
die Diagnosechecklisten (weniger zeitintensiv!!!) Werte zwischen 0,35 und 0,73.Selbstbeurteilungsbögen erreichten zwar eine ähnlich hohe Reliabilität, jedoch bei insgesamt hoher Sensitivität eine eher bescheidenen Spezifität, d.h. viele falsch positive Diagnosen. (Bronisch et al., 1993)

Validitätsstudien

Bronisch (2000):

„Es sollte hier besonders betont werden, daß kein Außenkriterium für die Persönlichkeitsstörungen und damit auch für Diagnostikinstrumente vorliegt, wie z.B: eine für eine Persönlichkeitsstörung spezifische Entwicklungsgeschichte oder ein biologischer Marker.“ (S. 1530)

In Ermangelung eines Faktors zur Bestimmung der externen Validität bildet die Konsensusdiagnose aus verschiedenen Informationsquellen (Arzt, Personal, Krankenakten, Fremdanamnese) oft den „gold standard“. Wie Pilkonis et al. (1995) jedoch darlegen konnten, gibt es nur eine mäßige Übereinstimmung zwischen solcherart erhobenen Diagnosen und denen auf Grundlage strukturierter Interviews. Die „concurrence validity“(Cronbach, 1969) bezieht sich auf die Vergleichbarkeit der Instrumente untereinander und die zeitliche Stabilität der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung

Zusammenfassung:
Die Validität der Diagnose Persönlichkeitsstörung stellt ein großes Problem dar. Bronisch (2000):

„Ein Außenkriterium fehlt, ebenso ein Referenzinstrument mit ausreichender Validität. Die Kappawerte lagen sowohl beim Vergleich der einzelnen Untersuchungsinstrumnte untereinander als auch bei der zeitlichen Stabilität eines Untersuchungsinstrumentes (IPDE) zumeist unterhalb der Grenze von 0,40 und waren damit inakzeptabel.“ (S. 1531)

Wegen der bisher fehlenden Validierung der Statusdiagnostik an externen Kriterien empfiehlt Fiedler für die praktische Anwendung:

  • sich nicht auf eine einmalige Statusdiagnostik zu verlassen
  • Erhebung einer ausführlichen „Störungs- und Ätiologieanalyse“ zur „Ausarbeitung einer individuellen Entwicklungshypothese“, die dann wiederum „mit den vorliegenden (konzeptionellen oder empirisch generierten) Ätiologiemodellen der diagnostizierten Störungen verglichen“ werden sollten.
  • Bei „Unstimmigkeit zwischen individueller und allgemeiner Ätiologieperspektive“ sollte die Statusdiagnostik überdacht werden.
  • Durchführung einer Longitudinal Expert Evaluation Using All Data (LEAD) (Spitzer, 1983), d.h. einer „Longitudinalbeobachtung durch wiederholte Expertenratings unter Einschluß aller Kriterien aller Persönlichkeitsstörungen“
    (Fiedler, 1994, S. 360)

Probleme im Umfeld des empirischen Forschungsparadigmas

Nur kursorisch sollen unter Bezug auf einen sehr lesenswerten Aufsatz von Legewie (1979) einige Implikationen empirischer Forschung genannt werden:

  • die Abhängigkeit der Methoden vom Alltagswissen und Alltagshandeln (S. 453)
  • die durch die wissenschaftstheoretische Basis des Logischen Empirismus vorgegebene Trennung von Entstehungszusammenhang, Überprüfungszusammenhang (nur dies ist genuiner Auftrag der Empirie!) und Verwertungszusammenhang (S. 455)
  • die Abhängigkeit gerade des unbeachteten aber gleichsam fundamental wichtigen „Verwertungszusammenhanges“ (aber auch des Entstehungszusammenhanges) vom herrschenden Paradigma (nach Kuhn) (S. 456)
  • die Koexistenz zweier zueinander gegensätzlicher psychologischer Forschungsparadigmata, nämlich
    • des „Organismusmodells“ des Menschen und
    • des „Handlungsmodells“ des Menschen, welche einer jeweils völlig unterschiedlichen Grundhaltung entsprechen und demgemäß auch völlig verschiedene Resultate zutage fördern. (S. 458)
  • einige systemtheoretische Überlegungen
  • die Finalisierungstendenz der empirischen Wissenschaften (vgl. auch Holzkamp)
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