Die eigentliche „Ursache“ der Schizophrenie liegt auch heute noch im Dunkeln. In allen aktuellen Lehrbüchern gilt die Ursache der Schizophrenie als „multifaktoriell„, d.h. frei übersetzt: „durch viele Ursachen“ bedingt . Diese „multifaktorielle Genese“ bedingt die unterschiedlichsten Zweige in der Schizophrenie-Forschung, die Beiträge zur differenzierteren Ursachen-Klärung beisteuern. Dieser Vielfalt im Forschungssektor entsprechend gibt es auch eine Vielzahl therapeutischer Schulen, die mit unterschiedlichen Methoden und Zugangswegen versuchen, Einfluss auf die Krankheit Schizophrenie zu nehmen.

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell (syn.: Diathese-Stress-Modell) der Schizophrenie

In der akademischen Psychiatrie hat sich, unter besonderer Berücksichtigung bisheriger empirischer Studien, etwa folgendes „Arbeitsmodell“ der Schizophrenie entwickelt:
Es wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass sogenannte „konstitutionelle“ (angeborene) Faktoren mit „umwelt- bzw. milieubedingten“ Faktoren zusammenwirken müssen, um eine schizophrene Erkrankung auszulösen. Weder die Erbanlage noch die Umweltfaktoren alleine sind im Regelfall dazu imstande. Dieser Verkettung von Erbfaktoren (Anlagefaktoren) und Umweltfaktoren wird durch den Begriff Vulnerabilitäts-Stress-Modell“ bzw. „Diathese-Stress-Modell“ Rechnung getragen. Dieses Modell wurde zwar 1977 von Zubin und Spring zuerst für die Schizophrenie eingeführt, gilt aber nach heutigem Verständnis für die Ätiopathogenese aller psychischer Störungen. Dabei ist die „Vulnerabilität“ nach W. Gaebel

„die subklinische angeborene und/oder erworbene, d.h. ihrerseits multifaktoriell vermittelte Krankheitsdisposition (Erkrankungswahrscheinlichkeit), die in interindividuell und möglicherweise auch intraindividuell variierender Ausprägung vorliegt und erst durch das Hinzutreten zusätzlicher Faktoren (individuell kritische Ereignisse/Belastungen /Konflikte aus dem psychosozialen Umfeld, aber auch biologische „Stressoren“) die Störung über die Manifestationsschwelle treten lässt.. Es wird eine kontinuierlich abgestufte Disposition (Diathese, Vulnerabilität) angenommen, die durch eine Kombination von Indikatoren psychophysiologischer, kognitiver und sozialer Auffälligkeiten definiert wird (…), die gehäuft bei sog. „high-risk“-Kindern gefunden werden.“ (in Möller; Laux; Kapfhammer, 2000)

Im Folgenden sollen wesentliche konstitutionelle (sogenannte „biologische“) Faktoren und psychosoziale Faktoren genannt werden.

Biologische Faktoren

Genetik:

Aufgrund von Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien ist inzwischen empirisch gut gesichert, dass die Schizophrenie (unter anderem) eine genetische Grundlage hat. Man spricht von einer sogenannten polygenen Erbanlage, wobei die Details und auch die Orte der beteiligten Gene noch unbekannt sind. Wie bereits gesagt führt die genetische Ausstattung mit solchen Genen alleine nicht zur Manifestation der Schizophrenie. Die Erbanlage zeigt also keine 100%ige Penetranz.

Bei insgesamt heterogenen und unbefriedigenden Studienergebnissen, bei denen mal diese, mal jene Chromosomen und Lokationen für die Störung verantwortlich sein sollen, konnten in letzter Zeit zwei Gene identifiziert werden, die offenbar doch eine bedeutsame Rolle bei der Entstehung der Schizophrenie haben:

  • das Dysbindin-Gen auf dem Chromosom 6 und
  • das Gen für die Bildung von Neuregulin auf dem Chromosom 8

Dysbindin ist wichtig für die Bildung von Synapsen (spezifischen Nervenzellendigungen) und die Signalvermittlung, Neuregulin beeinflusst u. a. die Übertragung an glutamergen Synapsen.

Was lässt sich nun darüber aussagen, wie wahrscheinlich es ist, dass jemand an Schizophrenie erkrankt, in dessen Familie bereits einer oder mehrere Erkrankte sind?
Die statistische Wahrscheinlichkeit, ebenfalls zu erkranken, hängt sehr von der genauen Konstellation ab. Folgende prozentuale Risiken hat man aufgrund von Familien- und Zwillings-Studien finden können (nach Häfner, 1995):

  • Die Konkordanzrate eineiiger Zwillinge liegt bei >50%
  • Die Konkordanzrate zweieiiger Zwillinge liegt nur noch bei ca 10%
  • Normale Geschwister erkranken mit einer Häufigkeit von unter 10%
  • Kinder von Eltern, die beide schizophren sind erkranken mit 36,6% Wahrscheinlichkeit
  • Kinder eines erkrankten Elternteils erkranken in etwa 10% d.F.
  • Halbgeschwister, Nichten, Neffen und Enkelkinder von Erkrankten haben eine 3%ige Wahrscheinlichkeit ebenfalls zu erkranken
  • Cousinen und Cousins 1. Grades erkranken in 1,5% der Fälle
  • Ehepartner von Betroffenen haben 1% Risiko zu erkranken

Bei Th. Köhler (2005) finden sich ergänzend folgende Zahlen aus diversen Adoptionsstudien:

  • Kinder eines schizophrenen Elternteils, erkranken unabhängig davon, ob sie bei nicht erkrankten Adoptiveltern aufwachsen oder beim erkrankten Elternteil verbleiben, mit einer Wahrscheinlichkeit von 10-20%
  • Das Erkrankungsrisiko von Kindern nicht-schizophrener Eltern steigt dagegen nicht, wenn sie in einer Adoptivfamilie aufwachsen, in der ein Elternteil schizophren erkrankt ist!

Typ-I- und Typ-II-Schizophrenie, Spektrumsstörungen

Es gibt Hinweise, dass Erbfaktoren bei der sogenannten Typ-II-Schizophrenie mit Negativsymptomatik ein wesentlich bedeutenderes Gewicht haben, als bei der Typ-I-Schizophrenie mit Positivsymptomatik.

Th. Köhler verweist auf die sogenannten „Spektrumsstörungen“:

Im verwandtschaftlichen Umfeld von Schizophrenen gibt es eine Häufung von sogenannten „Spektrumsstörungen“, d. h. Menschen mit Auffälligkeiten im Bereich der sozialen Interaktionen sowie der Wahrnehmungen bis hin zu psychose-nahem Erleben, ohne dass aber die Diagnose einer Schizophrenie gestellt wurde bzw. werden konnte.

Erworbene Hirnschädigungen:

Perinatale Hirnschädigungen:

Ein weiterer, möglicher, „biologischer“ Faktor sind sogenannte perinatale Hirnschädigungen. Diese können z.B. durch Virusinfektionen im zeitlichen Umfeld der Geburt hervorgerufen werden. Die Studienlage dazu ist aber unbefriedigend. Man stellt sich vor, dass es durch eine Infektion der Schwangeren zu einer geringfügigen Funktionsstörung des kindlichen Gehirns kommt, die letztlich die „Vulnerabilität“ (=Verletzlichkeit) des Gehirns erhöht. Man spricht von einer sogenannten Minimal Brain Dysfunction. Weitere diskutierte mögliche Schädigungsfaktoren sind:

  • Rhesusunverträglichkeit
  • geringes Geburtsgewicht
  • Mangelernährung der Schwangeren
  • Geburtskomplikationen u. a.
Andere erworbene Hirnschädigungen:
  • Schädel-Hirn-Traumata
  • toxische Einflüsse, z. B. Drogen (Cannabis und andere „Rauschdrogen“)

Eine Reihe von hirnpathologischen Befunden schizophrener Patienten werden auf derartige Dysfunktionen zurückgeführt. Dass diese Veränderungen oft bereits vor Beginn einer schizophrenen Erkrankung (v. a. bei Typ-II-Erkrankungen) nachgewiesen werden können, in ihrer Ausprägung mit dem Schweregrad der Schizophrenie zu korrelieren scheinen und sich oft auch bei sogenannten High-risk-Personen im verwandtschaftlichen Umfeld der Patienten finden, stützen die Vermutung, dass diese Befunde zum Krankheitsbild gehören und nicht Folgeerscheinungen sind. Dass die Defizite meist linksseitig auftreten, führte manche Autoren zu der Einschätzung, es handele sich bei der Schizophrenie v. a. um eine „Störung der kortikalen Lateralisation“, d. h. einer Aufhebung der normalen Dominanz der linken Hemisphäre, was aber der momentanen Studienlage zufolge nicht belegt werden konnte (vgl. Köhler 2005, S. 105ff).

Folgende Befunde lassen sich regelmässig bei schizophren Erkrankten erheben:

Neuroanatomische Befunde:

  • Erweiterung der Seitenventrikel und des 3. Ventrikels ( assoziert mit schlechter prämorbider Anpassungsleistung an Anforderungen des sozialen Umfeldes, ferner mit kognitiven Störungen)
  • Erweiterung der externen Liquorräume
  • Linksseitig betonter Parenchymverlust, pathologische Zellanordnungen oder verminderte Nervenzellzahlen
    • im Frontal- bzw. Stirnlappen (wichtig für kognitive Prozesse)
    • im Temporal- bzw. Schläfenlappen inkl. in den zentralen limbischen Strukturen und im Gyrus cinguli (wichtig für den Antrieb und die Affektivität, bei Störung resultiert eine „Negativsymptomatik“)
    • am Thalamus (wichtig zur Informationsverarbeitung und zur Koordinierung von Bewegungsabläufen)
    • in den Basalganglien resp. im Nucleus caudatus, angeblich abhängig von Neuroleptikabehandlung (wichtige Bedeutung bei der Bewertung von Eindrücken)

Rezeptorbindungsstudien:

Post-mortem-Studien an Gehirnen von (verstorbenen) Patienten mit langjähriger Schizophrenie (und Neuroleptika-Behandlung) zeigen eine erhöhte Dichte von insbsondere Typ D2-Dopaminrezeptoren. Aus diesem Befund wird von einigen Forschern abgeleitet, die Vermehrung von Dopaminrezeptoren stehe im direkten Zusammenhang mit der Schizophrenieerkrankung. Diese Folgerung ist aber eigentlich nicht korrekt. Denn erstens zeigen in-vivo-Untersuchungen an (lebenden) schizophrenen Patienten ohne neuroleptische Behandlung diesbezüglich keine eindeutigen Erkenntnisse, zweitens wäre das Postulat einer medikamentös induzierten Anpassungsleistung des Gehirns (Bildung neuer Rezeptoren als Anwort auf die anhaltende medikamentöse Blockade der verfügbaren Rezeptoren) zunächst näherliegend und deshalb auszuschließen. Drittens stammen die Befunde aus Hirnregionen, die bei der Schizophrenie eher weniger relevant sind (Basalganglien), während in relevanteren Gebieten (Gyrus cinguli (limbisches System)) die in-vivo-Studien eine paradoxe Verminderung von D2-Rezeptoren zeigte!

Zunehmend wird auch die Bedeutung anderer D-Rezeptor-Subtypen (D3, D4 und D1) sowie anderer Transmittersysteme, des Glutamat-Systems mit NMDA- Rezeptoren, Kainat- und AMPA-Rezeptoren, des cholinergen Systems mit seinen Acetylcholin-Rezeptoren, des GABAergen-Systems und auch des Serotonin-Systems mit den 5HT-Rezeptoren genauer untersucht, wobei die Ergebnisse noch uneinheitlich sind. Es finden sich bei Schizophrenen insbesondere

  • Störungen des Glutamat-Systems:
    • eine Vermehrung des Kainat-Rezeptors präfrontal
    • eine Verminderung des Kainat- und des AMPA-Rezeptors im Hippocampus
    • eine Störung dert Bindungsfähigkeit und der Affinität des NMDA-Rezeptors hinsichtlich Glutamat, kortikal, subkortikal und v. a. im Thalamus
  • Störungen des cholinergen Systems:
    • mangelnde Bindungsfähigkeit muskarinartiger Acetylcholinrezeptoren im präfrontalen Kortex (mögliche Mitverantwortung für die kognitiven Defizite schizophrener Patienten)
  • Störungen des GABAergen-Systems:
    • Veränderung von Synthese und Wiederaufnahme des Transmitters GABA präfrontal (Mitverantwortlichkeit für die präfrontale Dysfunktion)
  • Störungen des Serotonin-Systems:
    • erhöhte Dichte von Serotonin- (5HT1A-) Rezeptoren

(Einzelheiten in knapper und übersichtlicher Zusammenstellung bei Th. Köhler 2005, S. 109ff)

Neurophysiologische Befunde:

  • SPECT und PET-Untersuchungen:
    • Nachweis eines „Hypometabolismus“ und einer verminderten Durchblutung im Bereich des Frontalhirns. Man spricht auch von „Hypofrontalität“

 

  • Kernspin-Untersuchungen (MRT):
    • Defizite im Stoffwechsel der Nervenzellmembranen und Störungen der Myelinisierung (Nervenscheidenbildung) bei Schizophrenen und verwandten Personen mit „Spektrumsstörungen“

Neuropsychologische Befunde:

  • Nachweis „kognitiver Basisstörungen“ im Sinne einer Störung der Informationsverarbeitung
  • Schwächen der selektiven Aufmerksamkeit
  • Schwäche der Filterfunktion für irrelevante Informationen
  • Störungen der Reaktions- und Assoziationshierarchien

Neurochemische Befunde:

  • Überaktivität zentralnervöser dopaminerger Strukturen im mesolimbischen (, weniger im mesokortikalen) System (–> Dopaminhypothese der Schizophrenie, relevant für Typ-I-Schizophrenie)
  • Bei einer Subgruppe schizophrener Patienten, solchen mit Minus- (Negativ-) symptomatik (Typ-II-Schizophrenie), findet sich eher eine erniedrigte Dopaminaktivität, v. a. in kortikalen und frontalen Arealen
  • Wiederholte Befunde von erniedrigten Glutamatspiegeln im Liquor Schizophrener (–> Glutamathypothese der Schizophrenie, relevant für Typ-II-Schizophrenie)
Zur Dopaminhypothese:

Der Nachweis der Überaktivität dopaminerger Strukturen (Dopaminüberschuss) bei der Auslösung von Psychosen gibt eine Erklärung für die antipsychotische Wirkung der Neuroleptika an die Hand, denn alle Neuroleptika, das weiss man inzwischen, entfalten die antipsychotische Wirkung über zentrale postsynaptische Dopamin-D2-Rezeptoren. Die Einzelheiten freilich sind noch nicht in befriedigendem Masse bekannt. So weiss man noch nicht, wie die Dopamin-Hypothese der Schizophrenie korrekt formuliert werden muss, wie der Dopaminüberschuss genau zustande kommt. Denkbar wären z.B.:

  • ein absolutes oder relatives Überwiegen dopaminerger Aktivität, oder
  • eine Hypersensitivität dopaminerger Rezeptoren
  • eine Unterfunktion des glutamatergen Systems
  • eine Störung im serotonergen System

Für die Gültigkeit der These, dass ein Dopaminüberschuss zur (schizophrenen) Psychose führt, nennt Köhler (2005, S. 114) folgende Argumente:

  • Die Ähnlichkeit mit dem Parkinson-Syndrom
  • Die unterschiedlichen Nebenwirkungen typischer und atypischer Neuroleptika
  • Die Provokation psychotischer Symptome durch die Gabe von L-Dopa
  • Die Auslösung von Psychosen durch Amphetamin
  • Die antipsychotische Wirksamkeit von Reserpin

Die enge Beziehung zwischen Dopaminaktivität, Psychoseentstehung und Neuroleptika-Wirkung deutet zudem darauf hin, dass die Dopamin-Hypothese nur für die Typ-I-Schizophrenie Gültigkeit besitzt!

Zur Glutamathypothese:

Postuliert wird eine Unterfunktion von Glutamat am NMDA-Rezeptor, als deren Folge es zur Ausbildung der Negativsymptomatik bei Typ-II-Schizophrenien kommt.

Für die Gültigkeit der These spricht, dass Substanzen, die Glutamat antagonisieren, z. B. Ketamin oder PCP (Phencyclidin), zu Symptomen führen, die der Schizophrenie-Typ-II ähnlich sind:

  • Dissoziatives Erleben
  • Rückzug
  • Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen
  • Gedächtnisstörungen
  • Zerfahrenheit der Gedanken

Dopamin- und Glutamathypothese stehen nach bisherigen Erkenntnissen in einem antagonistischen Verhältnis zueinander, d. h. glutamerge Neurone aus dem Kortex hemmen die Dopaminfreisetzung aus Neuronen, deren Ursprung im Hirnstamm liegt.

Zusammenfassende Bewertung der dargestellten Befunde

Alle oben dargestellten biologischen Befunde werden noch sehr kontrovers diskutiert, entweder hinsichtlich ihrer kontinuierlichen Nachweisbarkeit oder hinsichtlich ihrer Bedeutung. Es handelt sich also nach jetzigem Wissenstand v. a. um interessante Entdeckungen und Hypothesenbildungen, deren genaue Bedeutung mehrheitlich noch unklar ist. Als wesentlichster ätiologisch wirksamer biologischer Faktor gilt die genetische Disposition.

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